Sonntag, Januar 21, 2007

Wenn Dunkelheit die Augen öffnet

In der Schweiz leben rund 40 000 Blinde. Täglich begegnen wir ihnen im Tram oder auf der Strasse. Rein äusserlich scheinen sie mit ihrer Behinderung gut zurecht zu kommen. Aber ist dem auch wirklich so?

Für uns Sehende ist es nur schwer nachvollziehbar, wie sich ein Blinder oder Sehbehinderter in der Dunkelheit fühlt, woher er oder sie die notwendige Selbstsicherheit nimmt und wie die vielen akustischen Eindrücke verarbeitet werden. Wie reagiert man auf das Ausbleiben optischer Reize? Ist man ohne Sehkraft nicht hoffnungslos verloren? Ein Besuch im Restaurant «Blinde Kuh», einer Institution von Blinden für Sehende, gibt uns Gelegenheit, die eigenen Reaktionen zu testen und für zwei Stunden in die Rolle eines Blinden zu schlüpfen.

Am Eingang werden Handys, Uhren und andere leuchtende Gegenstände eingeschlossen. Noch im Licht wählen wir aufgrund der Karte das Menü. Mit einer «Polonaise» tauchen wir in die totale Dunkelheit ein. Nadia, die blinde Kellnerin, führt uns an den reservierten Platz und erklärt, Teller, Gläser und Besteck stünden vor uns auf dem Tisch. Dann bringt sie die Getränke und das Essen. Die weiteren praktischen Schwierigkeiten sind programmiert: Wie einschenken, wenn man nicht weiss, wann das Glas voll ist? Wie das Fleisch schneiden, wenn man das Filet nicht sieht?

Mit der Zeit überwinden wir uns, die blossen Hände zu benutzen. Angespannt hören wir in die Dunkelheit hinein und machen die akustische Bekanntschaft der Tischnachbarn.

Weitere interessante Erfahrungen folgen: Ohne Augen werden Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn sowie das Gehör wichtiger. Das Essen schmeckt auch ohne die optischen Eindrücke. Voller Spannung führt man Fleisch und Gemüse zum Mund. Das Fehlen jeglicher Reizüberflutung steigert den Genuss und zwingt, langsamer zu essen. Unglaublich ist auch, dass uns die blinden Kellnerinnen und Kellner im Dunkeln überlegen sind: Guten Geistern gleich huschen sie hinter uns herum, bedienen und servieren, als ob wir und nicht sie blind wären. Wie schaffen sie es nur, in der Dunkelheit nirgendwo anzustossen?

Fazit des Abends: Unsere Augen sind wichtig, vielleicht das wichtigste Sinnesorgan des Menschen. Aber auch ohne Augenlicht ist ein erfülltes Leben möglich. Das fehlende Sehvermögen wird durch den Tastsinn, hohe Konzentration und ein aufmerksames Gehör kompensiert. Die Dunkelheit des Restaurants «Blinde Kuh» an der Dornacherstrasse 192 in Basel hat uns die Augen geöffnet.

www.blindekuh.ch/


baz vom 24.8.2005

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