Sonntag, Januar 21, 2007

Gesellschaft ohne Tabus

In unseren Breitengraden wird ein Thema als «Tabu» bezeichnet, das von bestimmten gesellschaftlichen Kreisen «totgeschwiegen» wird: Darüber darf nicht geredet werden. Gegen dieses «Gesetz» zu verstossen, wäre «politisch nicht korrekt». Wer dennoch einen Tabubruch begeht, muss mit Sanktionen rechnen, die von der simplen Ächtung bis zum Ausschluss aus der Gemeinschaft gehen können.

Der Begriff «Tabu» stammt aus der Sprache der Südseeinsulaner und bedeutet «unverletzlich». «Unantastbar» sind bei den Naturvölkern im Königreich Tonga Begräbnisplätze, Kultstätten sowie Örtlichkeiten, die - durch einen Faden umgrenzt - vor unerwünschtem Zutritt geschützt werden.

«Dürfen wir heute wirklich über alles sprechen?» fragte gestern Radio DRS2. In verschiedenen Sendungen wurden Tabus aus dem Alltag, der Politik, der Religion und der Literatur behandelt.

Tabus sind nicht statisch. Sie verändern sich. Der dynamische Zeitgeist der Wertegesellschaft bringt es mit sich, dass Tabus abgebaut oder gar aufgelöst werden: Kaum jemand empört sich heute noch, wenn er in der Öffentlichkeit mit Nacktheit, Sexualität, Gewalt in den Medien, Gotteslästerung oder Drogen konfrontiert wird. In der Literatur haben wir uns an tabubrechende Bücher sowie Ausstellungen gewöhnt. Ob dies gut ist, bleibe dahingestellt.

In anderen Bereichen halten sich Tabus hartnäckig: Über Geld spricht der Schweizer, die Schweizerin nicht. Löhne, Steuern oder Lottogewinne bleiben tabu. Persönliches Versagen, Schulden oder nicht bestandene Prüfungen werden nicht freiwillig angesprochen. Zurückhaltend verhalten wir uns auch bei schweren Krankheiten, Änderungen des Zivilstands oder Berichten aus dem Intimleben.

Macht das Respektieren von Tabus heute noch Sinn? Oder ist es das Ziel einer offenen (Medien-)Gesellschaft, sämtliche noch geltenden Tabus zu brechen? Keinesfalls. - Dort, wo Tabus eine schützende Funktion übernehmen, machen sie Sinn. Dazu gehören der Schutz vor unerwünschtem Eindringen in die Privatsphäre und vor Blossstellung. Obwohl uns die Boulevardpresse immer wieder vorgaukelt, wir lebten in einer «Gesellschaft ohne Tabus», ist dem nicht so.

Am vergangenen Montag fand im City Forum der baz ein Podiumsgespräch zum Thema «Selbsttötung» statt. Aus dem «Tabu Suizid» wurde ein wichtiges Generalthema, über das Experten und Betroffene sensibel diskutierten. Schmerzhafte Tabus können durch offene Kommunikation bewältigt werden. Dieses Ziel wurde am Montagabend klar erreicht.

baz vom 3.3.2005

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